MEDIA & DIGITAL

Aufbruch ins digitale Mittelalter

Das Diktat der Mittelmäßigkeit ist schuld. Und am Ende steht der offenbar allein glaubwürdige Nachbar mit seinen Verschwörungstheorien.

Lang, lang ist’s her, dass sich die europäischen Familien täglich zwischen 19.00 und 20.00 vor dem flimmernden Lagerfeuer der Röhrenfernseher versammelt haben, um gemeinsam „DIE NACHRICHTEN“ der öffentlich-rechtlichen Sender zu schauen. Was dort kommuniziert, kommentiert und analysiert wurde, war die Wahrheit. Was dort nicht berichtet wurde, war eigentlich gar nicht geschehen bzw. unwichtig. Ähnlich war es mit den Artikeln der bevorzugten Tageszeitung, wobei dort bereits ein gewisser Meinungspluralismus je nach Leserpräferenz herrschte. Und dieses Meinungsmonopol wurde (berechtigt) seit den 60er Jahren zunehmend analysiert und kritisiert. ABER: aufgrund des Bildungsauftrages der Sender konnte (trotz politischer Einflussnahmen) mit einem gewissen Objektivitätsfaktor gerechnet werden. Das bildete die überwiegende Informationsbasis der Bevölkerung. Zusätzliche Meinungen und Kommentare konnte man sich in den Printmedien abholen. Mit einer maßvollen und ausreichenden Presseförderung war es auch dort möglich, Qualität zu bieten und nicht ausschließlich von Anzeigen- und Werbekunden abhängig zu sein.  Und es war gut so…

Mitte der 80er Jahre folgten überall private TV-Sender. Brechung des öffentlich-rechtlichen Monopols, mehr Wirtschaftlichkeit, mehr Meinungsvielfalt waren die zugehörigen Schlagwörter. Parallel zog mit der europäischen Verbreitung von CNN (gegründet 1980)    und im jugendlichen Segment mit dem Siegeszug von MTV (gegründet 1991) eine gewisse Globalisierung in die Wohn- und Kinderzimmer ein. Ganz leise schlich sich parallel das Internet mit seinen unendlichen medialen Möglichkeiten an. Und ab den 2000ern das heute allgegenwärtige Smartphone: Anything goes…

Schöne neue Medienwelt.

Alle diese Kanäle hungern nach Content. Immerwährend, überall. Und Content kostet Geld. Insbesondere, wenn man privatwirtschaftlich organisiert ist, ohne TV-Gebühr, ohne oder mit wenig Presseförderung. Quote, Follower, Leserreichweite heißen die neuen Währungen. Sendeplätze, Zeitungs- oder Online-Seiten müssen gefüllt werden. Täglich. 7 x 24. The city never sleeps…

Guter Content kostet (meistens) VIEL Geld. Hochwertig produziert und sorgsam aufbereitet. Guter Content bleibt hängen. Animiert zum Nachdenken. Erzeugt vielleicht neuen (guten) Content…

Und da geschah es: in den 90ern beginnend, später immer mehr ausgeweitet, haben die Damen und Herren mit dem Rechenstift (plus gierigen Eigentümern) grausige Dinge wie „shareholder value“, Quotenrentabilität etc. für private Medien ausgepackt. Mediaagenturen haben den zahlenden Werbekunden eingetrichtert, nur was VIEL geschaut/gelesen wird, ist gut und rentabel. Parallel dazu haben es die europäischen Regierungen verabsäumt, den privaten Medien ein faires Wettbewerbsfeld einzurichten: keine Anteile an Rundfunkgebühren, keine wirklich differenzierte Presseförderung. Es gab zwar ansatzweise in Deutschland die Idee und auch Regelungen, Privatsender mit einem Bildungsauftrag zu versehen, dieser Ansatz wurde aber nicht nachhaltig genug verfolgt.

Und dann kam eines Tages „Big Brother“ aus einer niederländischen Denkfabrik. Container-TV, nicht nur örtlich, sondern auch inhaltlich. Müll-Container-TV. Und viele Programmchefs quer durch Europa folgten der Idee, billigen Content zu produzieren, der möglichst vielen Menschen gefallen sollte. Reality Soaps. Talk-Shows mit verhaltensoriginellen gesellschaftlichen Randerscheinungen. Voyeurismus in der Hartz-4-Umgebung. Fremdschämen. „Nee, so schlimm ist es nich‘ bei uns zuhause…“ Aber eh, schon cool, die Alte.“

Parallel dazu „erkannten“ die Printmedien (und deren Eigentümer), dass man durchaus im (als interne Konkurrenz betrachteten) hauseigenen Online-Bereich auch ohne hochqualitative, teure Redakteure produzieren kann (oder muss). Das Praktikum ward geboren. Mit schnellen, oft schlecht redigierten Meldungen und eiligst ausgebildeten Redakteuren und später Vee-Jays. Hauptsache schnell. Und irgendwann mit der Frage, ob man im teuren Printbereich nicht ebenfalls das „Erfolgsmodell“ anwenden könnte. Zusätzlich, wenn es vorrangig ums Geld geht, sind Informationen allein natürlich zu wenig.  Es MUSS eine sensationelle Nachricht sein, immer billiger produziert, Wahrheitsgehalt zweitrangig. Und der Boulevard-Journalismus, schon lange erfolgreich im Geschäft, trat in seiner dramatischsten Ausprägung, der Wergwerf-Gratiszeitung, seinen Siegeszug an…

Aber das Internet hatte noch zwei eigene Überraschung im Köcher: JEDER kann in Wirklichkeit Programm machen. Vom Musikvideo bis zum Video-Blog. Und so erschienen sie, die Blogger und Influencer. Inhalt meist zweitrangig, die Verpackung muss schick sein. Wie viele Follower hast du, Alter ? Hast du Follower, hast du Werbepartner, bist du cool, Alter…

2021: die mediale Diktatur der Mittelmäßigkeit. Schöne neue Welt.

Jetzt wissen wir, dass Mittelmäßigkeit nichts Beschämendes mehr hat. Sie ist cool, weil wir doch alle so sind.  Und dann wären da noch die sozialen Medien. Jeder kann mit jedem kommunizieren. Weltweite Mittelmässigkeit. Hast du dein Profil, deine kleine digitale Welt, folgt bald die unausweichliche Echokammer der Gleichgesinnten. Die berühmte „Blase“ in der wir uns bewegen. Unser digitales Grätzel, weil wir alle täglich wissen wollen, wie es den „unseren“ so geht…

Die „unseren“. Die, die uns WIRKLICH verstehen. Die, welche ähnliche Interessen, aber auch die gleichen Probleme haben. Die unsere Ansichten teilen. Uns bestärken. Uns vertraulich Geschichten erzählen und schicken, wie Dinge WIRKLICH ablaufen. Nicht so konfuses Zeug wie in den Medien. Sagen ja, die unseren, dass das alles sowieso nicht stimmt. Fake News eben.

Und dann sind da die „anderen“. Die wir nicht wollen. Die mit den komischen Ansichten. Und denen sagen wir es ordentlich rein. Möglichst anonym, möglichst schnell. Und eben die MEDIEN. Die wollen ohnehin nur Geld verdienen und haben ihre eigene Agenda.

Respekt ? Anerkennen einer anderen Meinung ? Wozu ? Recht hat, wer lauter schreit. Und wirklich cool ist nur der, der es ins TV oder mit eigenem Channel auf „youtube“ schafft. Als Recall-Teilnehmer, als Influencer, als Comedian. WE ARE THE NEW MEDIA. Alles andere ist fake. Und wer nicht mehr sinnerfassend lesen kann, schaut lieber bunte Videobilder.

Und dann purzeln die Nachrichten immer besorgniserregender auf uns ein: im Impfstoff ist ein Chip versteckt, die Nazis wohnen am Südpol in einer unterirdischen Stadt, die Welt wird entweder von Reptiloiden oder von Illuminaten regiert. Im Zweifelsfall sind immer Bill Gates oder George Soros schuld. Und natürlich die jüdische Weltverschwörung. Vielleicht aber auch die Migranten. Die Chinesen haben COVID-19 auf uns losgelassen. Man weiß es nicht so genau, aber meine Freunde haben es mir geschrieben, da wird etwas dran sein…

In der Schule haben wir (damals zwischen befremdet und belustigt hin und hergerissen) vom mittelalterlichen Aberglauben gelernt, der es seit der Antike (aus heidnischer Zeit) bis ins Christentum geschafft hatte. Mit schwarzen Katzen, dem bösen Blick, den Unglückszahlen, den bösen Geistern, den Rothaarigen und der schlechten linken Hand…und irgendwann gipfelte es in Inquisition, Hexenverbrennung und späterer Massenvernichtung.

Wir haben alle geglaubt, das überwunden zu haben. Wer heute eine Stunde quer durch Online-Plattformen und soziale Medien liest, könnte meinen, irrtümlich in einem esoterisch-geheimgesellschaftlichen Zirkel gelandet zu sein.

Der Grund dafür war überwiegend die ungebremste, teilweise forcierte Medienentwicklung der letzten 40 Jahre. Die neue Mittelmäßigkeit. Mit dem Effekt, dass sich die Medien selbst beinahe wegrationalisiert haben und die Meinung des Nachbarn mehr Gewicht bekommen hat als jede (noch) gut recherchierte Story. Und einer begleitenden Politik, die sich davon das genommen hat, was sie zum medialen Überleben braucht. Populismus pur. Brot und Spiele. Presseförderung und Werbeschaltungen als neue Dressurmittel. Oder durch direkte Bedienung der sozialen Medien mit offener Kampfansage an klassische Medien. „Fake News“ aus dem Munde der Präsident gewordenen Comic-Figur jenseits des Atlantiks.

Politische Medienfürsten bestimmen Mehrheiten und Wahrheiten. Und das mittelmäßige Volk tauscht sich artig oder zunehmend unartig in den sozialen Medien aus. Schöne neue (Medien-)Welt.

„Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.“ (Bonmot unbekannter Herkunft, vielfach zu Unrecht Karl Kraus zugeschrieben).

Gibt es einen Weg zurück ?

Die Politik kann ihn vorgeben. Mit Gesetzen, die private Medien gleichstellen. Mit Bekenntnis zu einem existenten Bildungsauftrag für ALLE Medien und zu möglichst unabhängigen Medien. Mit Regelungen, die rufschädigendes und verhetzendes Verhalten in sozialen Medien ahnden. Mit Regulierung globaler Meinungsgiganten und Community-Betreiber. Mit dem Zulassen und der Förderung konträrer Meinungen. Qualität statt Quote. Mehr Vision anstelle von Campaigns. Mehr Expertenberatung anstelle von Spin-Doktoren. Mehr Augenmerk auf Bildung und Kultur.

Die Wirtschaft kann ihn steuern. Mit selektiver Werbegeldvergabe und nachhaltigen Unternehmenszielen. Mit gänzlichem Verzicht auf oder sehr bedachtsamen Wahlspenden. Mit einer vorbildlichen Mitarbeiter- und Außenkommunikation. Mit Förderung von Bildung und Kultur. Mit neuem Reputation Management.

Wir alle können ihn täglich beeinflussen. Mit Abgabe unserer Wählerstimme. Mit Auswahl unserer Medien und Inhalte. Mit der Erziehung unserer Kinder. Mit entschiedenem Auftritt in den sozialen Medien. Mit eigener Fortbildung.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Mit diesem Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach aus 1893 stelle ich mich persönlich dem digitalen Aberglauben entgegen.

Maßnahmen, wie man diese neuen Medienwelten bewältigen kann, gibt es einige.

Doch das ist eine ganz andere Geschichte, die meine match group-Partnerin Gabriele Brandner in Kürze in ihrem Blogbeitrag schreiben wird.

Alex Vogel, Februar 2021